Während drei Jahren hat die Covid-19-Pandemie nicht nur die Schlagzeilen in den Medien dominiert, sondern auch die Organisation des öffentlichen Vorlesungsprogramm bestimmt. Nun ist sie schlagartig in den Hintergrund gerückt. Ein neues, für viele von uns kaum fassbares Ereignis hält derzeit die Welt in Atem: Im Februar dieses Jahres lancierte Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der bis heute andauert und unerträgliches Leid über die Menschen in der Ukraine gebracht hat; Millionen von Menschen sind auf der Flucht, ihr Schicksal von Verlust und Trauma geprägt. Die gesamte Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa und in der Welt ist durch diesen Krieg in Frage gestellt. Es ist von einer «Zeitenwende» die Rede.
Trotz unserer relativ langen Planungshorizonte findet der Krieg in der Ukraine bereits Eingang in unser Vorlesungsprogramm – einmal mehr zeigt sich die Voraussicht unserer Dozentinnen und Dozenten, ihr Wissen und Gespür für die prägenden Themen unserer Zeit. Sie helfen uns mit ihren Veranstaltungen, die Ereignisse besser zu verstehen und einzuordnen. Direkt mit dem Ukraine-Krieg befasst sich Christoph Freis Klassiker unter den öffentlichen Vorlesungen «Brennpunkte und Grundprobleme internationaler Politik». Mehrere Veranstaltungen vermitteln relevantes Kontextwissen: So beleuchtet Bardo Fassbenders Vorlesung das Selbstbestimmungsrecht der Völker als möglichen Baustein einer zukünftigen internationalen Ordnung; Felix Bosshard untersucht in seiner Vorlesung den Kalten Krieg als Ursprung aktueller Gegebenheiten, Krisen und Konflikte; schliesslich zeigt uns Yves Partschefeld in welcher Weise die Transformationszeit der 1990er-Jahre im östlichen Europa für die heutigen Entwicklungen und Ereignisse von Relevanz sind, insbesondere auch im Hinblick auf das Verhältnis der Transformationsstaaten untereinander.
Neben diesem Schwerpunkt präsentiert sich das öffentliche Vorlesungsprogramm in der gewohnten thematischen Breite. Passend zu Hannes Thalmanns Bildern des SQUARE als Ort der Reflektion und der gedanklichen Spiegelung, des kreativen Austausches und des inklusiven und kritischen Nachdenkens, widmet sich Dominique Künzle dem kritischen Denken, nicht zuletzt in dessen Verhältnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis und Expertise. Gerade in unserer turbulenten, oft durch Fehlinformation und Skepsis geprägten Zeit, scheint diese Einordnung besonders wichtig. Auch Matthias Schneider und Susanne Täschler greifen mit dem Fokus auf den vielzitierten Stadt-Land-Graben ein Thema von hoher – insbesondere politischer – Relevanz auf. Schliesslich widmet sich Monika Kritzmöller dem menschlichen Körper: Während aktuelle Ereignisse heute viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, bildet er die «einzige Gewissheit unserer Existenz». Wie verletzlich wir in Körper, Geist und Seele sind, führt uns derzeit ein unfassbarer Krieg im Herzen von Europa vor Augen, und wir alle ringen, im Grossen wie im Kleinen, mit der Frage nach der angemessenen Antwort darauf. Einfache Antworten gibt es keine. Leiten lassen sollten wir uns aber für alle Handlungsoptionen, sei es auf persönlicher, politischer, oder wirtschaftlicher Ebene, von einem übergeordneten Prinzip: der Menschlichkeit.
Florian Wettstein, im Juni 2022